Francesca Albanese auf einer kurzfristig zur „Jungen Welt“ verlegten Veranstaltung am 19. Februar 2025.Â
Liebe deutsche Völkerrechtler, liebe Kolleg:innen,
wir sind nicht immer einer Meinung. Dennoch habe ich das Bedürfnis, Euch zu schreiben. Ich weiß, dass Ihr viel zu tun habt. Ihr müsst Bücher schreiben, Konferenzen organisieren, Drittmittelanträge fertigstellen und die unbeantworteten E-Mails und Anfragen werden immer zahlreicher. Ich würde mich freuen, wenn Ihr einige Minuten erübrigen könntet. Die Dinge stehen derzeit nicht gut für das Völkerrecht. Ich denke, das seht Ihr genauso wie ich. Einige von Euch haben deutlich und unmissverständlich die Missachtung des Völkerrechts durch Politiker:innen angeprangert, die das Asylrecht angreifen, die europäische Menschenrechtsordnung und internationale Gerichte infrage stellen. Und natürlich habt Ihr Trumps eklatante Verachtung des Rechts auf Selbstbestimmung der Bewohner:innen Grönlands und des Gazastreifens kritisiert.
Doch die meisten von uns – mich eingeschlossen – halten sich eher bedeckt, wenn es um die zunehmenden Angriffe auf die Menschenrechte und das Völkerrecht in unserer unmittelbaren Umgebung geht, auch innerhalb der Universität. Die Liste der Ausladungen, Absagen, Kriminalisierungen und Repressionen gegen Personen, die die Rechte der Palästinenser in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem verteidigen, wird immer länger. In den letzten vierzehn Tagen haben innerhalb weniger Tage zwei Universitäten – die LMU München und die Freie Universität Berlin – Veranstaltungen mit Francesca Albanese, der UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, abgesagt.
Ist das nicht der Moment, in dem wir endlich unsere Stimme erheben sollten, auch wenn wir dies bisher aus Angst, einen falschen Schritt auf dem Minenfeld der Israel/Palästina-Debatte zu tun, nicht getan haben? Francesca Albanese ist unsere Kollegin. Sie erfüllt ein Mandat des Menschenrechtsrats und ist eine weltweit angesehene Völkerrechtlerin, die an Universitäten auf der ganzen Welt Vorträge hält. Regierungen behandeln UN-Sonderberichterstatter gewöhnlich so, wie sie ausländische Botschafter behandeln. Es ist bisher noch nie vorgekommen, dass die UN-Sonderberichterstatterin Albanese von einer Universität ausgeladen wurde.
Wo bleibt unsere Empörung und Entrüstung, liebe Völkerrechtler:innen, über Albaneses Ausladung durch die LMU und die Freie Universität? Wo bleibt unser Aufschrei über die Verleumdungskampagne von Politikern und Interessengruppen gegen sie? Die Berliner Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra gab per Pressemitteilung bekannt, „die Äußerungen von Frau Albanese [erfüllten] alle Kriterien des Antisemitismus.“ Weder hat sie diese Kriterien konkretisiert noch angegeben, auf welche Äußerungen von Albanese sie sich bezieht. Albanese wurde nicht nur als Antisemitin diffamiert, sondern auch mit Politikern der AfDverglichen und beschuldigt, den Terror der Hamas zu verherrlichen. Ein Artikel in der „Jüdischen Allgemeinen“ war so infam, unter Bezugnahme auf den Namen der Gruppe, die die LMU-Veranstaltung organisierte – die „Decolonial Practices Group“ – die Frage zu stellen, ob „Decolonial Practices“ auch Massaker wie das vom 7. Oktober 2023 einschließe.
Der Präsident der Freien Universität Günter Ziegler beugte sich schließlich dem immer weiter steigenden Druck und der Intervention des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner. Er sagte die Präsenzveranstaltung ab und begründete diese Entscheidung wenig überzeugend mit der „gegenwärtigen Polarisierung und der unvorhersehbaren Sicherheitslage“. Er hielt an der akademischen Freiheit fest, aber nur in Worten, nicht in Taten, und verwies die Organisator:innen auf eine Online-Veranstaltung.
Wo bleibt unser Aufschrei? Einige von Euch haben ihr Bedauern über diese Verletzung der Wissenschaftsfreiheit zum Ausdruck gebracht. Dafür bin ich Euch dankbar. Aber ich habe auch einige Fragen. Warum habt Ihr das Bedürfnis, Eure Stellungnahme mitVorbehalten zu versehen? Warum kritisiert Ihr in Eurer Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit das Konzept der Veranstaltung mit Francesca Albanese und Eyal Weizman „Lebensbedingungen, die auf Zerstörung ausgelegt sind. Rechtliche und forensische Perspektiven auf den anhaltenden Völkermord im Gazastreifen“, die von vier Kolleg:innen – nicht aus dem Völkerrecht, sondern aus der Philosophischen Fakultät der FU –organisiert wurde? Ihr hättet Euch „eine Konzeption der Veranstaltung gewünscht, die nicht bereits im Titel das Ergebnis einer zu führenden Diskussion vorwegnimmt.“ Ich verstehe, dass Ihr die Veranstaltung anders konzipiert hättet; aber ist Eure Stellungnahme, die so dringend nötig ist, um die Wissenschaftsfreiheit gegen politische Intervention zu verteidigen, wirklich der richtige Ort für die Auseinandersetzung mit Kolleg:innen über die Gestaltung einer akademischen Veranstaltung?
Das Mandat der UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten besteht darin, „Israels Verstöße gegen die Grundsätze und Grundlagen des Völkerrechts, des humanitären Völkerrechts und der Genfer Konvention vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten zu untersuchen. Dies ist seit der Einrichtung der Position im Jahr 1993 der Fall. Francesca Albanese ist in ihrer Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass der Staat Israel einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Als Völkerrechtler sollten wir sie dazu einladen, ihre Erkenntnisse zu erläutern. Wir sollten ihr zuhören. Dann können wir Fragen stellen und ein Gespräch führen. Aber wir sollten nicht versuchen, ein „faires Gleichgewicht“ zu erreichen, indem wir immer auch „die andere Seite“ einladen. Wollen wir unsere universitären Debatten wirklich in ein weiteres mittelmäßiges Talkshow-Format verwandeln?
„Von antisemitischen Positionen distanzieren wir uns.“ Wir alle haben die Verantwortung, uns gegen Antisemitismus auszusprechen, wo und wann immer er auftritt. Natürlich! Doch in diesem Zusammenhang kann der Satz so verstanden werden, dass die Positionen der UN Sonderberichterstatterin tatsächlich oder möglicherweise antisemitisch sind. Angesichts des Schadens, der durch die derzeitige Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen, auch durch die extreme Rechte, angerichtet wird, sind bloße Andeutungen, dass jemand, der sich für Gerechtigkeit und internationales Recht einsetzt, antisemitische Handlungen begehen könnte, fahrlässig. Gestern wurde ein Ort in Berlin, an dem Francesca Albanese sprechen sollte, mit den Worten „Albanese, du bist eine Antisemitin“ beschmiert. Ich vertraue darauf, dass wir als Völkerrechtler:innen nicht, wie einige andere, schon die Erfüllung ihres Mandats als inhärent antisemitisch interpretieren. Wir machen uns mitschuldig an dieser Hexenjagd, wenn wir unbegründete Vorwürfe und Unterstellungen unwidersprochen stehen lassen.
Ich möchte Euch einladen, Euch das Gespräch mit Albanese anzusehen, das die LMU-Arbeitsgruppe „Dekoloniale Praktiken“ nicht an der LMU führen durfte und das deshalb von einem anderen Veranstaltungsort per Livestream übertragen und aufgezeichnet wurde. Während des gesamten Gesprächs erinnerte Francesca Albanese die Zuhörer:innen an die Verantwortung der Deutschen und der Europäer für den Holocaust und andere Völkermorde. Diese Verantwortung ist es, die ihre Arbeit motiviert und antreibt. Sie erinnerte ihr Publikum auch daran, dass die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland nicht auf Konzentrationslager beschränkt war und dass Juden auch nach dem Krieg weiterhin schwerer Diskriminierung und Antisemitismus in Deutschland, aber auch in anderen Teilen Europas und den Vereinigten Staaten ausgesetzt waren (ich empfehle in diesem Zusammenhang wärmstens den Film „The Brutalist“). Sie verurteilt jegliche Gewalt gegen Zivilist:innen aufs Schärfste. Selten habe ich einer Völkerrechtlerin zugehört, die mit so viel Intelligenz und Witz spricht, die so gut darin ist, komplexe Sachverhalte auf zugängliche Weise zu erklären, die über ein so nuanciertes Urteilsvermögen, Selbstbeobachtung, Lern- und Zuhörbereitschaft, Furchtlosigkeit und Hingabe für Gerechtigkeit verfügt – nicht nur für Palästinenser:innen, sondern für alle Opfer von Unterdrückung.
Während unsere Politiker und Universitäten es versäumen, einer UN-Sonderberichterstatterin Respekt zu zollen, lassen wir eine Kollegin und Lichtbringerin in diesen dunklen Zeiten im Stich, wenn wir uns nicht für sie und gegen falsche und unbegründete Anschuldigungen einsetzen. Vor allem aber versagen wir gegenüber unseren Studierenden, der Gesellschaft und der Idee der Menschenrechte, die – wenn sie überhaupt eine Bedeutung haben sollen – den Machtlosen dienen müssen. Francesca Albanese wird auch ohne unsere Unterstützung zurechtkommen; ihr Amt wird ihr hoffentlich als Schutzschild dienen. Aber die Zeit ist vorbei, in der wir uns aus der Debatte darüber, was Antisemitismus ist, heraushalten konnten. Die Zeit ist vorbei, in der wir uns mit Menschenrechten, humanitärem Recht, der Anwendung von Gewalt oder Wirtschaftssanktionen befassen und uns zugleich weigern konnten, uns mit Israel/Palästina auseinanderzusetzen.
Es ist an der Zeit, endlich für die Menschenrechte und gegen die Mitverantwortung des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft für die Gewalt gegen Palästinenser:innen einzutreten – auch auf die Gefahr hin einige Freunde und Fördermittel zu verlieren. Die nächste Jahreskonferenz der European Society of International Law findet im September dieses Jahres an der Freien Universität in Berlin statt. Ihr Thema lautet „Reconstructing International Law“. Das Völkerrecht wird vor unseren Augen abgebaut, an den Universitäten und in den Straßen Berlins, während ich diesen Brief schreibe. Der Schaden wird nicht mit Konferenzen und Zeitschriftenartikeln behoben werden können. Lasst uns für einen Moment die unvollendeten Manuskripte und Anträge beiseitelegen und dafür sorgen, dass Francesca Albanese an deutschen Universitäten sprechen darf!
Mit freundlichen Grüßen, eine Kollegin aus dem Völkerrecht.
Francesca Albanese auf einer kurzfristig zur „Jungen Welt“ verlegten Veranstaltung am 19. Februar 2025.Â
Liebe deutsche Völkerrechtler, liebe Kolleg:innen,
wir sind nicht immer einer Meinung. Dennoch habe ich das Bedürfnis, Euch zu schreiben. Ich weiß, dass Ihr viel zu tun habt. Ihr müsst Bücher schreiben, Konferenzen organisieren, Drittmittelanträge fertigstellen und die unbeantworteten E-Mails und Anfragen werden immer zahlreicher. Ich würde mich freuen, wenn Ihr einige Minuten erübrigen könntet. Die Dinge stehen derzeit nicht gut für das Völkerrecht. Ich denke, das seht Ihr genauso wie ich. Einige von Euch haben deutlich und unmissverständlich die Missachtung des Völkerrechts durch Politiker:innen angeprangert, die das Asylrecht angreifen, die europäische Menschenrechtsordnung und internationale Gerichte infrage stellen. Und natürlich habt Ihr Trumps eklatante Verachtung des Rechts auf Selbstbestimmung der Bewohner:innen Grönlands und des Gazastreifens kritisiert.
Doch die meisten von uns – mich eingeschlossen – halten sich eher bedeckt, wenn es um die zunehmenden Angriffe auf die Menschenrechte und das Völkerrecht in unserer unmittelbaren Umgebung geht, auch innerhalb der Universität. Die Liste der Ausladungen, Absagen, Kriminalisierungen und Repressionen gegen Personen, die die Rechte der Palästinenser in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem verteidigen, wird immer länger. In den letzten vierzehn Tagen haben innerhalb weniger Tage zwei Universitäten – die LMU München und die Freie Universität Berlin – Veranstaltungen mit Francesca Albanese, der UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, abgesagt.
Ist das nicht der Moment, in dem wir endlich unsere Stimme erheben sollten, auch wenn wir dies bisher aus Angst, einen falschen Schritt auf dem Minenfeld der Israel/Palästina-Debatte zu tun, nicht getan haben? Francesca Albanese ist unsere Kollegin. Sie erfüllt ein Mandat des Menschenrechtsrats und ist eine weltweit angesehene Völkerrechtlerin, die an Universitäten auf der ganzen Welt Vorträge hält. Regierungen behandeln UN-Sonderberichterstatter gewöhnlich so, wie sie ausländische Botschafter behandeln. Es ist bisher noch nie vorgekommen, dass die UN-Sonderberichterstatterin Albanese von einer Universität ausgeladen wurde.
Wo bleibt unsere Empörung und Entrüstung, liebe Völkerrechtler:innen, über Albaneses Ausladung durch die LMU und die Freie Universität? Wo bleibt unser Aufschrei über die Verleumdungskampagne von Politikern und Interessengruppen gegen sie? Die Berliner Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra gab per Pressemitteilung bekannt, „die Äußerungen von Frau Albanese [erfüllten] alle Kriterien des Antisemitismus.“ Weder hat sie diese Kriterien konkretisiert noch angegeben, auf welche Äußerungen von Albanese sie sich bezieht. Albanese wurde nicht nur als Antisemitin diffamiert, sondern auch mit Politikern der AfDverglichen und beschuldigt, den Terror der Hamas zu verherrlichen. Ein Artikel in der „Jüdischen Allgemeinen“ war so infam, unter Bezugnahme auf den Namen der Gruppe, die die LMU-Veranstaltung organisierte – die „Decolonial Practices Group“ – die Frage zu stellen, ob „Decolonial Practices“ auch Massaker wie das vom 7. Oktober 2023 einschließe.
Der Präsident der Freien Universität Günter Ziegler beugte sich schließlich dem immer weiter steigenden Druck und der Intervention des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner. Er sagte die Präsenzveranstaltung ab und begründete diese Entscheidung wenig überzeugend mit der „gegenwärtigen Polarisierung und der unvorhersehbaren Sicherheitslage“. Er hielt an der akademischen Freiheit fest, aber nur in Worten, nicht in Taten, und verwies die Organisator:innen auf eine Online-Veranstaltung.
Wo bleibt unser Aufschrei? Einige von Euch haben ihr Bedauern über diese Verletzung der Wissenschaftsfreiheit zum Ausdruck gebracht. Dafür bin ich Euch dankbar. Aber ich habe auch einige Fragen. Warum habt Ihr das Bedürfnis, Eure Stellungnahme mitVorbehalten zu versehen? Warum kritisiert Ihr in Eurer Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit das Konzept der Veranstaltung mit Francesca Albanese und Eyal Weizman „Lebensbedingungen, die auf Zerstörung ausgelegt sind. Rechtliche und forensische Perspektiven auf den anhaltenden Völkermord im Gazastreifen“, die von vier Kolleg:innen – nicht aus dem Völkerrecht, sondern aus der Philosophischen Fakultät der FU –organisiert wurde? Ihr hättet Euch „eine Konzeption der Veranstaltung gewünscht, die nicht bereits im Titel das Ergebnis einer zu führenden Diskussion vorwegnimmt.“ Ich verstehe, dass Ihr die Veranstaltung anders konzipiert hättet; aber ist Eure Stellungnahme, die so dringend nötig ist, um die Wissenschaftsfreiheit gegen politische Intervention zu verteidigen, wirklich der richtige Ort für die Auseinandersetzung mit Kolleg:innen über die Gestaltung einer akademischen Veranstaltung?
Das Mandat der UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten besteht darin, „Israels Verstöße gegen die Grundsätze und Grundlagen des Völkerrechts, des humanitären Völkerrechts und der Genfer Konvention vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten zu untersuchen. Dies ist seit der Einrichtung der Position im Jahr 1993 der Fall. Francesca Albanese ist in ihrer Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass der Staat Israel einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Als Völkerrechtler sollten wir sie dazu einladen, ihre Erkenntnisse zu erläutern. Wir sollten ihr zuhören. Dann können wir Fragen stellen und ein Gespräch führen. Aber wir sollten nicht versuchen, ein „faires Gleichgewicht“ zu erreichen, indem wir immer auch „die andere Seite“ einladen. Wollen wir unsere universitären Debatten wirklich in ein weiteres mittelmäßiges Talkshow-Format verwandeln?
„Von antisemitischen Positionen distanzieren wir uns.“ Wir alle haben die Verantwortung, uns gegen Antisemitismus auszusprechen, wo und wann immer er auftritt. Natürlich! Doch in diesem Zusammenhang kann der Satz so verstanden werden, dass die Positionen der UN Sonderberichterstatterin tatsächlich oder möglicherweise antisemitisch sind. Angesichts des Schadens, der durch die derzeitige Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen, auch durch die extreme Rechte, angerichtet wird, sind bloße Andeutungen, dass jemand, der sich für Gerechtigkeit und internationales Recht einsetzt, antisemitische Handlungen begehen könnte, fahrlässig. Gestern wurde ein Ort in Berlin, an dem Francesca Albanese sprechen sollte, mit den Worten „Albanese, du bist eine Antisemitin“ beschmiert. Ich vertraue darauf, dass wir als Völkerrechtler:innen nicht, wie einige andere, schon die Erfüllung ihres Mandats als inhärent antisemitisch interpretieren. Wir machen uns mitschuldig an dieser Hexenjagd, wenn wir unbegründete Vorwürfe und Unterstellungen unwidersprochen stehen lassen.
Ich möchte Euch einladen, Euch das Gespräch mit Albanese anzusehen, das die LMU-Arbeitsgruppe „Dekoloniale Praktiken“ nicht an der LMU führen durfte und das deshalb von einem anderen Veranstaltungsort per Livestream übertragen und aufgezeichnet wurde. Während des gesamten Gesprächs erinnerte Francesca Albanese die Zuhörer:innen an die Verantwortung der Deutschen und der Europäer für den Holocaust und andere Völkermorde. Diese Verantwortung ist es, die ihre Arbeit motiviert und antreibt. Sie erinnerte ihr Publikum auch daran, dass die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland nicht auf Konzentrationslager beschränkt war und dass Juden auch nach dem Krieg weiterhin schwerer Diskriminierung und Antisemitismus in Deutschland, aber auch in anderen Teilen Europas und den Vereinigten Staaten ausgesetzt waren (ich empfehle in diesem Zusammenhang wärmstens den Film „The Brutalist“). Sie verurteilt jegliche Gewalt gegen Zivilist:innen aufs Schärfste. Selten habe ich einer Völkerrechtlerin zugehört, die mit so viel Intelligenz und Witz spricht, die so gut darin ist, komplexe Sachverhalte auf zugängliche Weise zu erklären, die über ein so nuanciertes Urteilsvermögen, Selbstbeobachtung, Lern- und Zuhörbereitschaft, Furchtlosigkeit und Hingabe für Gerechtigkeit verfügt – nicht nur für Palästinenser:innen, sondern für alle Opfer von Unterdrückung.
Während unsere Politiker und Universitäten es versäumen, einer UN-Sonderberichterstatterin Respekt zu zollen, lassen wir eine Kollegin und Lichtbringerin in diesen dunklen Zeiten im Stich, wenn wir uns nicht für sie und gegen falsche und unbegründete Anschuldigungen einsetzen. Vor allem aber versagen wir gegenüber unseren Studierenden, der Gesellschaft und der Idee der Menschenrechte, die – wenn sie überhaupt eine Bedeutung haben sollen – den Machtlosen dienen müssen. Francesca Albanese wird auch ohne unsere Unterstützung zurechtkommen; ihr Amt wird ihr hoffentlich als Schutzschild dienen. Aber die Zeit ist vorbei, in der wir uns aus der Debatte darüber, was Antisemitismus ist, heraushalten konnten. Die Zeit ist vorbei, in der wir uns mit Menschenrechten, humanitärem Recht, der Anwendung von Gewalt oder Wirtschaftssanktionen befassen und uns zugleich weigern konnten, uns mit Israel/Palästina auseinanderzusetzen.
Es ist an der Zeit, endlich für die Menschenrechte und gegen die Mitverantwortung des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft für die Gewalt gegen Palästinenser:innen einzutreten – auch auf die Gefahr hin einige Freunde und Fördermittel zu verlieren. Die nächste Jahreskonferenz der European Society of International Law findet im September dieses Jahres an der Freien Universität in Berlin statt. Ihr Thema lautet „Reconstructing International Law“. Das Völkerrecht wird vor unseren Augen abgebaut, an den Universitäten und in den Straßen Berlins, während ich diesen Brief schreibe. Der Schaden wird nicht mit Konferenzen und Zeitschriftenartikeln behoben werden können. Lasst uns für einen Moment die unvollendeten Manuskripte und Anträge beiseitelegen und dafür sorgen, dass Francesca Albanese an deutschen Universitäten sprechen darf!
Mit freundlichen Grüßen, eine Kollegin aus dem Völkerrecht.
Facing the Authoritarian
Drift: Art Schools
as Sites of Critique
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