Mitglieder von KriSol (Allianz für Kritische und Solidarische Wissenschaft) organisieren die Veranstaltungsreihe Abdrift ins Autoritäre, oder Kunsthochschulen als Orte der Kritik. Im Rahmen dieser Reihe waren drei Tage mit Vorträgen, Filmvorführungen und Gesprächen unter dem Titel „The Art of Memory in Times of Trauma and Grief“ geplant. Die Veranstaltung wurde jedoch plötzlich durch die Leitung der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig verschoben. KriSol teilt in Solidarität die folgende Erklärung von Michael Rothberg.
Im vergangenen März hielt ich die zweite Annual Mosse Lecture an der Columbia University. Laut der Website der Universität wurde die Annual Mosse Lecture ins Leben gerufen, „um das Vermächtnis des progressiven Mosse-Verlags zu ehren, der von Rudolf Mosse gegründet wurde, dessen Flaggschiff, das Berliner Tageblatt, dazu beitrug, die demokratische Öffentlichkeit während der Weimarer Republik zu gestalten“. Zu den angesehenen Mitgliedern dieser deutsch-jüdischen Familie, die unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 zur Flucht gezwungen wurden, gehörte George Mosse, der später ein innovativer Historiker zu Nationalismus, Faschismus, Rassismus und Sexualität wurde.
Das Thema meines Vortrags wurde von dem Engagement der Familie Mosse für eine „demokratische Öffentlichkeit“ und von ihren Exilerfahrungen inspiriert. Ich sprach zunächst über die autoritäre Wende in der deutschen Erinnerungskultur, die in den letzten Jahren mit Debatten über den Holocaust, über Antisemitismus und Israel/Palästina einherging. Anschließend wandte ich mich einem Film über staatliche Gewalt, Völkermord, Erinnerung und Exil zu, der von einer kurdischen Künstlerin gedreht wurde, die aufgrund von Verfolgung aus der Türkei fliehen musste. Pınar Öğrencis wunderschöner Film Aşît erzählt die Geschichte der Heimatstadt ihres Vaters, einem Schauplatz des Völkermords an den Armeniern und der aktuellen Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei. Der Film ist auch von Stefan Zweig inspiriert, der nach seiner Flucht vor den Nazis Selbstmord beging und dessen kosmopolitische Sensibilität Gegenstand einer der Studien George Mosses zu deutsch-jüdischer Kultur war. Durch die Art und Weise, wie Aşît armenische, jüdische und kurdische Geschichte miteinander verwebt, bietet der Film ein relationales Modell des Erinnerns, das, so meine Argumentation, als Alternative zu einer deutschen Erinnerungskultur dienen könnte, die in ihrem Fokus auf die Singularität des Holocaust starr und dogmatisch geworden ist.
Als ich letzten Sommer eingeladen wurde, im Rahmen der Vortragsreihe Abdrift ins Autoritäre, oder Kunsthochschulen als Orte der Kritik zu sprechen, die sich der Auseinandersetzung mit dem neuen Dogmatismus in der deutschen öffentlichen Kultur widmet, dachte ich, dass dieser Vortrag gut in diesen Kontext passen würde. Die Organisator:innen luden auch Pınar Öğrenci ein, ihren Film zu zeigen, sowie die palästinensische Künstlerin Jumana Manna mit ihrem Film Foragers. Nach meinem Vortrag sollte eine Podiumsdiskussion stattfinden, an der neben Manna, der Holocaust-Forscherin Marianne Hirsch und der Soziologin Çiğdem Inan auch die Organisator:innen des Panels teilnehmen sollten. Außerdem war ein Treffen mit Studierenden der Hochschule für Grafik und Buchkunst/Academy of Fine Arts Leipzig geplant, um meine Arbeit zum Thema Holocaust-Erinnerung zu besprechen. Diese dreitägige Veranstaltung mit Filmvorführungen, Vorträgen und Diskussionen trug den Titel „The Art of Memory in Times of Trauma and Grief“.
Am 4. Dezember, dem Tag, an dem die Filmvorführung stattfinden sollte, und einen Tag vor dem Vortrag und der Podiumsdiskussion wurden alle Veranstaltungen von der gastgebende Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig „verschoben“ – ein Euphemismus für Zensur oder Absage. Mit anderen Worten: Eine Vorlesung, die Teil einer Reihe war, die organisiert wurde, um auf die Einschränkung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit in Deutschland aufmerksam zu machen, wurde stattdessen selbst eingeschränkt und als Gelegenheit genutzt, um palästinensische Perspektiven erneut zu diffamieren. Diese „verschobenen“ Veranstaltungen sollten fast auf den Tag genau ein Jahr nach der „Verschiebung" einer anderen Veranstaltungsreihe mit dem Titel We Still Need to Talk: Towards a Relational Model of Remembrance, die ich zusammen mit Candice Breitz und der Bundeszentrale für politische Bildung organisiert hatte, stattfinden. In beiden Fällen zielte die Zensur auf Äußerungen (oder potenzielle Äußerungen) von Palästinenser:innen, von Menschen, die mit Palästinenser:innen solidarisch sind, und/oder von Menschen, die den Vernichtungskrieg Israels gegen die Palästinenser:innen im Gazastreifen und die anhaltende Besetzung des Westjordanlandes und Ost-Jerusalems kritisieren. In beiden Fällen führte diese Zensur auch dazu, dass jüdische Stimmen zum Schweigen gebracht wurden, darunter auch die Stimmen jüdischer Holocaust-Forscher:innen.
Es ist kaum zwei Wochen her, dass Nan Goldin bei der Eröffnung ihrer Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin mutige Worte fand, in denen sie anprangerte, dass in Deutschland die Solidarität mit Palästina unterdrückt wird, und die Hoffnung äußerte, dazu beitragen zu können, „anderen Künstler:innen den Weg zu ebnen, sich zu äußern, ohne zensiert zu werden“. Seitdem wurde eine Veranstaltung, die einer Graphic Novel über die Geschichte Jerusalems gewidmet war – ein Bestseller in Frankreich, der ins Hebräische übersetzt wird – in Berlin abgesagt; und nun werden die Veranstaltungen in Leipzig in die lange Liste der Repressionen nach dem 7. Oktober aufgenommen, die im Archive of Silence dokumentiert sind.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Verschiebung der Leipziger Veranstaltungen auf den Tag fiel, an dem Amnesty International einen Bericht veröffentlichte, in dem argumentiert wird, dass Israels Krieg in Gaza der Genozid-Definition des Völkerrecht entspricht, und damit die Einschätzung zahlreicher Genozid-Forscher:innen und internationaler Jurist:innen bestätigt. Trotz Zensurbemühungen deutscher Politiker:innen und Institutionen wird ein erzwungenes Schweigen niemals eine Abrechnung mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern und niemals die Solidarität unter denen untergraben, die sich für eine friedliche und gerechte Zukunft für alle einsetzen.
Michael Rothberg
Mitglieder von KriSol (Allianz für Kritische und Solidarische Wissenschaft) organisieren die Veranstaltungsreihe Abdrift ins Autoritäre, oder Kunsthochschulen als Orte der Kritik. Im Rahmen dieser Reihe waren drei Tage mit Vorträgen, Filmvorführungen und Gesprächen unter dem Titel „The Art of Memory in Times of Trauma and Grief“ geplant. Die Veranstaltung wurde jedoch plötzlich durch die Leitung der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig verschoben. KriSol teilt in Solidarität die folgende Erklärung von Michael Rothberg.
Im vergangenen März hielt ich die zweite Annual Mosse Lecture an der Columbia University. Laut der Website der Universität wurde die Annual Mosse Lecture ins Leben gerufen, „um das Vermächtnis des progressiven Mosse-Verlags zu ehren, der von Rudolf Mosse gegründet wurde, dessen Flaggschiff, das Berliner Tageblatt, dazu beitrug, die demokratische Öffentlichkeit während der Weimarer Republik zu gestalten“. Zu den angesehenen Mitgliedern dieser deutsch-jüdischen Familie, die unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 zur Flucht gezwungen wurden, gehörte George Mosse, der später ein innovativer Historiker zu Nationalismus, Faschismus, Rassismus und Sexualität wurde.
Das Thema meines Vortrags wurde von dem Engagement der Familie Mosse für eine „demokratische Öffentlichkeit“ und von ihren Exilerfahrungen inspiriert. Ich sprach zunächst über die autoritäre Wende in der deutschen Erinnerungskultur, die in den letzten Jahren mit Debatten über den Holocaust, über Antisemitismus und Israel/Palästina einherging. Anschließend wandte ich mich einem Film über staatliche Gewalt, Völkermord, Erinnerung und Exil zu, der von einer kurdischen Künstlerin gedreht wurde, die aufgrund von Verfolgung aus der Türkei fliehen musste. Pınar Öğrencis wunderschöner Film Aşît erzählt die Geschichte der Heimatstadt ihres Vaters, einem Schauplatz des Völkermords an den Armeniern und der aktuellen Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei. Der Film ist auch von Stefan Zweig inspiriert, der nach seiner Flucht vor den Nazis Selbstmord beging und dessen kosmopolitische Sensibilität Gegenstand einer der Studien George Mosses zu deutsch-jüdischer Kultur war. Durch die Art und Weise, wie Aşît armenische, jüdische und kurdische Geschichte miteinander verwebt, bietet der Film ein relationales Modell des Erinnerns, das, so meine Argumentation, als Alternative zu einer deutschen Erinnerungskultur dienen könnte, die in ihrem Fokus auf die Singularität des Holocaust starr und dogmatisch geworden ist.
Als ich letzten Sommer eingeladen wurde, im Rahmen der Vortragsreihe Abdrift ins Autoritäre, oder Kunsthochschulen als Orte der Kritik zu sprechen, die sich der Auseinandersetzung mit dem neuen Dogmatismus in der deutschen öffentlichen Kultur widmet, dachte ich, dass dieser Vortrag gut in diesen Kontext passen würde. Die Organisator:innen luden auch Pınar Öğrenci ein, ihren Film zu zeigen, sowie die palästinensische Künstlerin Jumana Manna mit ihrem Film Foragers. Nach meinem Vortrag sollte eine Podiumsdiskussion stattfinden, an der neben Manna, der Holocaust-Forscherin Marianne Hirsch und der Soziologin Çiğdem Inan auch die Organisator:innen des Panels teilnehmen sollten. Außerdem war ein Treffen mit Studierenden der Hochschule für Grafik und Buchkunst/Academy of Fine Arts Leipzig geplant, um meine Arbeit zum Thema Holocaust-Erinnerung zu besprechen. Diese dreitägige Veranstaltung mit Filmvorführungen, Vorträgen und Diskussionen trug den Titel „The Art of Memory in Times of Trauma and Grief“.
Am 4. Dezember, dem Tag, an dem die Filmvorführung stattfinden sollte, und einen Tag vor dem Vortrag und der Podiumsdiskussion wurden alle Veranstaltungen von der gastgebende Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig „verschoben“ – ein Euphemismus für Zensur oder Absage. Mit anderen Worten: Eine Vorlesung, die Teil einer Reihe war, die organisiert wurde, um auf die Einschränkung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit in Deutschland aufmerksam zu machen, wurde stattdessen selbst eingeschränkt und als Gelegenheit genutzt, um palästinensische Perspektiven erneut zu diffamieren. Diese „verschobenen“ Veranstaltungen sollten fast auf den Tag genau ein Jahr nach der „Verschiebung" einer anderen Veranstaltungsreihe mit dem Titel We Still Need to Talk: Towards a Relational Model of Remembrance, die ich zusammen mit Candice Breitz und der Bundeszentrale für politische Bildung organisiert hatte, stattfinden. In beiden Fällen zielte die Zensur auf Äußerungen (oder potenzielle Äußerungen) von Palästinenser:innen, von Menschen, die mit Palästinenser:innen solidarisch sind, und/oder von Menschen, die den Vernichtungskrieg Israels gegen die Palästinenser:innen im Gazastreifen und die anhaltende Besetzung des Westjordanlandes und Ost-Jerusalems kritisieren. In beiden Fällen führte diese Zensur auch dazu, dass jüdische Stimmen zum Schweigen gebracht wurden, darunter auch die Stimmen jüdischer Holocaust-Forscher:innen.
Es ist kaum zwei Wochen her, dass Nan Goldin bei der Eröffnung ihrer Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin mutige Worte fand, in denen sie anprangerte, dass in Deutschland die Solidarität mit Palästina unterdrückt wird, und die Hoffnung äußerte, dazu beitragen zu können, „anderen Künstler:innen den Weg zu ebnen, sich zu äußern, ohne zensiert zu werden“. Seitdem wurde eine Veranstaltung, die einer Graphic Novel über die Geschichte Jerusalems gewidmet war – ein Bestseller in Frankreich, der ins Hebräische übersetzt wird – in Berlin abgesagt; und nun werden die Veranstaltungen in Leipzig in die lange Liste der Repressionen nach dem 7. Oktober aufgenommen, die im Archive of Silence dokumentiert sind.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Verschiebung der Leipziger Veranstaltungen auf den Tag fiel, an dem Amnesty International einen Bericht veröffentlichte, in dem argumentiert wird, dass Israels Krieg in Gaza der Genozid-Definition des Völkerrecht entspricht, und damit die Einschätzung zahlreicher Genozid-Forscher:innen und internationaler Jurist:innen bestätigt. Trotz Zensurbemühungen deutscher Politiker:innen und Institutionen wird ein erzwungenes Schweigen niemals eine Abrechnung mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern und niemals die Solidarität unter denen untergraben, die sich für eine friedliche und gerechte Zukunft für alle einsetzen.
Michael Rothberg
Abdrift ins Autoritäre,
oder Kunsthochschulen als
Orte der Kritik
Abdrift ins Autoritäre,
oder Kunsthochschulen als
Orte der Kritik